07.09.2023, Blog

«Der sieht gar nicht aus wie ein Grüner»

Im Berufsbildungszentrum Rorschach schnuppern sieben Fachklassen mit Kantonsratsmitgliedern aus sechs Parteien Politluft. Die drängendsten Themen der Jugendlichen sind Druck am Arbeitsplatz, Einbürgerung und Klimawandel.

Was brennt Berufsfachschülern unter den Nägeln? Welches Thema wollen sie unbedingt mit St.Galler Kantonsratsmitgliedern diskutieren, die für einen Sitz im Bundesparlament kandidieren? Und wie halten es sie überhaupt mit der Politik? Diese Fragen wirft am Mittwoch das halbtägige Politforum am Berufsbildungszentrum Rorschach auf, das der Demokratiebildung dient und Jugendliche an die Politik heranführen will.

2008 lanciert, anfänglich jährlich, seit 2015 im Vierjahreszyklus der nationalen Wahlen, ist die Veranstaltung ein Gradmesser für die Stimmung unter Ostschweizer Jugendlichen. Und eine schöne Herausforderung für Nationalratskandidierende, wie in diesem Wahljahr Daniel Bosshard (Grüne), Sarah Noger-Engeler, GLP), Sascha Schmid (SVP), Ruben Schuler (FDP) und Bettina Surber (SP).

Während 2019 das Thema «Klimawandel» gesetzt war und mit ETH-Klimatologe Reto Knutti eine Leit- und Reizfigur auftrat, geht es nun um eigene Schwerpunkte: Unter dem Titel «Meine Themen, deine Themen» haben sieben Klassen von Floristinnen, Gärtnern, Fleischfachleuten, Polymechanikern, Konstrukteuren, Logistikern und Produktionsmechanikern ihre wichtigsten Anliegen gesammelt.

«Geschlechtsänderung einfacher als Einbürgerung»

Freilich spielt der Klimawandel in der Lebenswelt der Jugendlichen eine wichtige, wenn auch kaum die Hauptrolle. Mit roten Klebepunkten markieren die rund 100 Lernenden ihre Brennpunkte, die im Umweltbereich rasch klar sind: «Klimakleber (unnötig)» und «ÖV (zu teuer)». Erstaunlicherweise fehlen Stichworte wie Waldbrände oder Überschwemmungen komplett (wie übrigens auch der Krieg in der Ukraine). Wo es noch vor vier Jahren Stimmen gab, die eine Verteuerung des Fliegens forderten, machen sich nun Autofans bemerkbar: «Tuning-Gesetze lockern.»

Weitaus mehr Kleber aber platzieren die 17- bis 20-Jährigen auf drei ganz anderen Themenblättern: Die Stichworte «Suizid unter Jugendlichen» und «Vier-Tage-Woche» belegen, dass der Leistungs- und Gruppendruck in der Schule und am Arbeitsplatz viele Jugendliche belastet. Auch das dritte Thema mit den meisten Stimmen ist fürs spätere Plenum gesetzt: «Warum ist die Geschlechtsänderung einfacher zu erreichen als die Einbürgerung eines Ausländers, geboren in der Schweiz?» Nicht der provokative Vergleich, der auf einem zweiten, ebenfalls punktgeröteten Zettel ausgedeutscht wird («LGBTQ gehört nicht in den Unterricht»), wohl aber die Einbürgerung wird zum Steilpass für die kantonale Politik.

«Wir machen hier die Lehre, warum erhalten wir nicht den Schweizer Pass?» Die Frage eines Schülers mit Migrationshintergrund geht an den SVP-Mann. Wer wirklich wolle, werde eingebürgert, erklärt Schmid, aber man dürfe den Pass nicht verschenken. Die Regeln seien klar und eine Prüfung okay, unterstützen ihn die Bürgerlichen, zumal der «Spiessrutenlauf» vor der Gemeindeversammlung abgeschafft wurde. Auf der linken Seite inklusive GLP wird hingegen die von der Aktion Vierviertel lancierte Volksinitiative für eine erleichterte Einbürgerung befürwortet. SP-Frau und Anwältin Surber lehnt die hohen Einbürgerungshürden ab. «Viele mit Schweizer Pass würden den Test nicht bestehen», sagt sie und erntet prompt den lautesten Beifall.

«Politik geht stundenlang»

Für den Energiewandel bleibt am Ende wenig Zeit, obwohl die von Schuler (FDP) lancierte Atomkraftfrage sofort Emotionen schürt. «Politik geht stundenlang», stellt Moderator Daniel Kehl, Lehrer am BZR und ehemaliger SP-Fraktionschef im St.Galler Stadtparlament, am Ende fest. «Wir hatten eine halbe Stunde und sind noch nirgends.»

So beherzt die Aufrufe der Kandidierenden an die Lernenden, «daran zu glauben, dass Sie etwas bewegen können» und die Politik als kritische Auseinandersetzung im Alltag zu begreifen, so ernüchternd die Abstimmung, die BZR-Rektor Rolf Grunauer durchführt. Lediglich fünf strecken auf, als er nach ihrer Motivation fragt, in die Politik zu gehen. Immerhin drei Dutzend bejahen, nun für politische Fragen sensibilisiert zu sein. «Es muss noch wachsen, aber wir haben einen guten Boden gelegt», meint Grunauer - im Wissen, dass auch kleine Schritte gegen die Politikverdrossenheit helfen.

Auch wenn die Botschaften der angehenden Berufsfachleute an die Politik unklar seien, hätten sie viele ihrer Themen klar formuliert, sagen die Politforum-Organisatoren Martin Buschor und Georg Lanter hernach. Themen wie Stress am Arbeitsplatz, der beispielsweise einen Drittel der Floristinnen im zweiten Lehrjahr zum Aufhören bewog, psychische Probleme, Verwirrung in einer digitalisierten Welt voller globaler Krisen. Dass Jugendliche gern «Empörungsstoff» wie die «Klimakleber» aufnähmen, liege an zufälligen viralen Wellen und an den Clickbait-Medien, die sie konsumierten. «Sie verstehen aber sehr wohl, dass es für eine lebendige Demokratie in einer komplexen Welt die Politik braucht.»

Hier Klimakleber, dort Autoposer

Einblicke in die Workshops belegen dies an munteren Beispielen: So versucht Sarah Noger-Engeler im Kreise der Logistiker (ausschliesslich Männer) Verständnis zu wecken für die «Klimakleber», die zwar nervten, aber sich wenigstens nicht gewalttätig Gehör verschafften. Und sie versteht die Faszination für schnelle Autos und Benzinmotoren («Ich liebe meinen alten Mini») und findet «Autoposer» trotzdem «sinnbefreit» - letztlich sei alles eine Frage von «Meine Freiheit, deine Freiheit». Ihr grüner Ratskollege Daniel Bosshard versucht den Fleischfachleuten (darunter wenige Frauen) weis zu machen, warum Tempo 30 in den Städten nötig ist, wobei er – psst, seine Partei hört es nicht gern – Tempo 40 bevorzuge. Bosshard hat in der Vorstellungsrunde gepunktet: Vor 21 Jahren habe er am KV in Lachen SZ «null Interesse» an Politik gehabt, am Familientisch – der Vater Heizungsmonteur, die Mutter Putzfrau – sei «nicht politisiert, sondern gegessen worden, sogar Fleisch.» Sein Auftritt erstaunte die – politisch eher ihrem Berufskollegen Mike Egger (SVP) zugeneigten – Fleischfachleute, wie ihre Lehrerin erzählt: «Der sieht ja gar nicht aus wie Grüner, sagten sie. Sie hätten jemanden Verfilzten erwartet.» Ein fast kitschiges Beispiel dafür, wie ein solcher Anlass Vorurteile abbauen kann…

Die Autofans zieht’s mittags runter zur Hauptstrasse. Die ehemalige Degersheimer Gemeinderatspräsidentin Monika Scherrer fragt am Hafenplatz: «Ist das nun die Strasse der Autoposer?» Die Erkenntnisse für den angelaufenen Wahlkampf mögen gering sein, doch die munteren Begegnungen wirkten anregend, sind sich am Mittagstisch alle einig. Die Anliegen liegen vor der Haustüre – oder eben auf der Strasse, siehe Tempo 30.

Bericht:Tagblatt, Marcel Elsener